Text: Ksenja HolzmannTitelbild: Russland, Abtransport von Ostarbeitern / Foto © Bundesarchiv, Bild 183-B25444 / CC-BY-SA 3.022.06.2021

Fritz Sauckel , der Generalbevollmächtigte des Arbeitseinsatzes, organisierte mit seinen zahlreichen Mitarbeitern und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Behörden die Rekrutierung von Millionen Menschen aus den besetzten Gebieten. Zunächst wurde Propaganda für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich betrieben, faire Arbeits- und Lebensbedingungen, guter Lohn und eine ausreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln versprochen.

Weil die Lebensbedingungen in der Heimat so schwierig waren und das Versprechen auf Besserung ihnen einen möglichen Ausweg eröffnete, meldeten sich zunächst viele „Ostarbeiter“ freiwillig für den Arbeitseinsatz: bis Januar 1942  ungefähr 50.000 Arbeiter:innen, später noch einige zehntausend mehr. Als aber die ersten Briefe aus dem Deutschen Reich die Heimat erreichten, stellte sich schnell heraus, dass die Realität ganz anders aussah. Zusätzlich kamen die ersten „Ostarbeiter“ zurück, weil sie zu krank und arbeitsunfähig und daher für den Arbeitseinsatz unbrauchbar waren. 

Schnell blieben die freiwilligen Meldungen aus und die Nationalsozialisten verließen sich längst nicht mehr nur auf Propaganda: Auch Zwangsrekrutierungen, Gewalt, Repressionen und willkürliche Razzien kamen massiv zum Einsatz.

Ganz offen wurde in den Behörden von „Menschenjagden“ oder „Sklavenjagden“ gesprochen.

Ganze Familien oder auch schwangere Frauen wurden willkürlich auf den Straßen gefasst und in die Waggons der Züge gesteckt. 

Die Gewalt nahm unter anderem auch deshalb zu, weil sich viele Menschen den Pflichtarbeitsdiensten widersetzen, die für bestimmte Altersgruppen eingerichtet wurden. Seit Dezember 1941 gab es eine allgemeine Arbeitspflicht für Frauen zwischen 15 und 45 Jahren und für Männer zwischen 15 und 65. Ein Jahr später wurde diese Altersbeschränkung wieder aufgehoben, so dass Menschen jeden Alters zwangsrekrutiert werden konnten. In dem Reichskommissariat Ukraine zogen die Nazis ab 1942 alle Menschen der Jahrgänge 1922 bis 1925 zu einem zweijährigen Pflichtarbeitsdienst im Deutschen Reich ein.

Ich habe lange geschwankt, als die Deutschen mit der Werbung für Deutschland begannen. Das Leben war unerträglich geworden, es herrschte Hunger, an Studieren war nicht zu denken, Arbeit gab es keine. […]

Die Front rückte immer weiter nach Osten, und mich packte ein Gefühl von Ausweglosigkeit.

Der Anwerbung zu folgen und zum Arbeiten nach Deutschland zu gehen erschien mir als einziger realer Ausweg. Zumal niemand wusste, wie lange dieses Chaos noch dauern würde. Also ging ich zur Anwerbestelle. Neben der Tür hing ein Aufruf, in dem die Deutschen für ein halbes Jahr Arbeit in Deutschland einen guten Lohn versprachen. Das wollte ich sehr sehr gern glauben. Mich beruhigte die Vorstellung, dass ich zu essen und ein Dach überm Kopf haben würde, und vielleicht würde ich sogar meinen Angehörigen helfen können, die in Odessa blieben. Die Werber schrieben unsere Personalien auf und teilten uns den Tag der Abreise mit. Wir waren viele Freiwillige – ein ganzer Güterzug voll. Und das waren nicht irgendwelche Kontras, Volksfeinde oder erbitterte Vaterlandsverräter. Das waren lauter Leute, die verzweifelt waren über ihre Lage und sich nicht an die neue Macht anpassen konnten. Und Menschen, die alle Angehörigen und ihr Zuhause verloren hatten, denen nichts und niemand auf der Welt geblieben war.

Nina Odolinskaja,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 105

Nun, und zwischen dem elften und fünfzehnten führten sie mich, uns nach draußen und brachten uns zum Güterbahnhof. Und befahlen uns in die Güterwaggons zu klettern.

Nun und nach einer gewissen Zeit […] füllten [sie ] diese Waggons bis zum Anschlag. Von überall her brachten sie noch mehr Menschen, machten diese Waggons und den gesamten Zug voll. Und sie brachten uns nach Deutschland. Den ersten Halt machten wir anscheinend, scheinbar irgendwo in Polen. Sie befahlen uns aus dem Waggon zu steigen, trieben uns in irgendeinen sozusagen so einen Hof, wo solche niedrigen Ziegelbauten standen.

Die Diensthabenden, anscheinend Polen, machten uns den Kopf und die behaarten Körperteile nass, […] im Februar. Es war kalt und die rieben uns mit irgendeiner sehr flüssigen, giftigen Flüssigkeit ein, die schrecklich stank und brannte.

Dann trieben sie uns wieder in die Waggons und transportierten uns weiter.

… er war der Leiter dieses […] Zugs. Naja, und er öffnete die Tür ein wenig und sagte, dass drei Mädchen herauskommen sollen für Küchenarbeiten.

Hinaus gingen Marija Klendjuk, ein Mädchen etwas älter als ich, wahrscheinlich ein Jahr, ich und, […] äh, Ljudmila Winogradowa. Sie war älter als wir, schon so ein Mädchen. Naja. Dieser Geleitmann führte uns hinter das Kassengebäude, der Zug fuhr weg. Nach einiger Zeit kam ein Nahverkehrszug wahrscheinlich, er brachte uns hinein, also in diesen, in den Vorraum […] dieses Zugs und wir wurden weiter transportiert.

Wir mussten mehrere Male umsteigen. Deutsche, die uns erkannten, Frauen spuckten uns an und schrien: ‘Russische Schweine’. Die deutschen Männer besahen uns mit Neugier. Man brachte uns in die Stadt Reutlingen.

Dort führte man uns in irgendein, anscheinend, scheinbar war das ein Amt zur Vermittlung von Dienstpersonal. Der Geleitmann ging in das Dienstzimmer. Nach einiger Zeit kam er heraus und sagte: ‘Ihr werdet abgeholt.

Walentina K., Interview za037, 05.08.2005, Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“

Sagen Sie, wie kamen Sie unter die Menschen, die aussortiert wurden, um nach Deutschland verschleppt zu werden?

Wie jetzt wie? In den Dörfern gab es doch die Dorfältesten. Er bekam von den Deutschen die Aufgabe eine bestimmte Zahl von Menschen auszuwählen.

Somit wählte er aus.

Wie lief das ab? Wie haben Sie davon erfahren? Wer teilte es Ihnen mit?

Er kam und sagte, dass man nach Deutschland müsse.

Kam er zu Ihnen nach Hause?

Ja, natürlich. Er, der Dorfälteste, ging selbst zu allen hin. Er verkündete es allen.

Wie verhielt sich der Dorfälteste eigentlich?

Er blieb als Einziger am Leben. Nach dem Krieg wohnte er in Tschischowka, bis er starb. Und der zweite, der das war, als unsere Truppen kamen, der wurde erschossen. Doch wie er sich verhielt, das kann Jewdokija bestimmt besser erzählen.

Und dann mussten Sie am nächsten Tag doch bestimmt irgendwohin kommen, oder?

Natürlich, uns wurde ein Treffpunkt genannt. Wo genau der war, weiß ich leider nicht mehr.

Wie lief der Abschied ab?

Dort war so ein Geschrei. Aber wirklich. Wir heulten, aber sie noch viel mehr. Sie schrien vor Trauer. Die Tante ging gleich los nach Woronesch. Und mein Papa war im naheliegenden Dorf Maslowka stationiert.

Gleich, nachdem der Bombenangriff vorbei war, bekam Papa die Erlaubnis und kam mit einem Pferd, um uns abzuholen. Er kam und fragte: ‘Wo ist Schura?’ Mama sagte: ‘Sie ist ins Dorf gegangen, nach Sinije Lipjagi.’

Dann packten sie ganz schnell ein paar Sachen ein und fuhren nach Maslowka. Nach Maslowka war meine Mama dann in Bojewo, Krasnij Lutsch, nein, Krasnyj Log. In Krasnij Lug war sie.

Am 25. Januar wurde Woronesch wieder befreit, und am 26. kehrte Mama mit meinem Bruder zurück. Er war ja damals erst 3 Jahre alt.

Alexandra S., Interview za350, 07.07.2005, Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945http://Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“

Meine Mutter war zum Bahnhof mitgekommen. Auch von anderen waren Angehörige da. Aber sie durften nicht mehr zu uns. Die Deutschen haben uns mit Hunden umringt und keinen herangelassen – sofort stürzten die Schäferhunde los, deshalb konnten sie nicht zu uns. Dann trieben sie uns in den Waggon, mit Stiefeltritten. Das war ein Geschrei! Alle schrien: ‘Mama! Mama!’ Die Eltern haben geschrien, und wir haben geschrien: ‘Nicht weinen, Mama, nicht weinen, Mama!’

Warwara Chabarowa,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 123

Es gibt eine Anordnung des Kommandanten von Bachmatsch – damals gehörten wir noch zum Gebiet Bachmatsch – über den Transport von Menschen nach Deutschland. Und ich war auch auf der Liste zum Abtransport. Sie sagten mir: ‘Saschko, bereite dich vor.’

Und [umgehend, umgehend] musste man zum Dorfältesten. ‘Wenn du fliehst, wirst du sowieso gefangen, und dann erschießen wir dich … Dein Vater und deine Mutter werden auch erschossen.’

Und etwa um die Mittagszeit, gegen 11-12 Uhr wurden all diese Kinder zusammen getrieben. Man kann sagen Kinder, weil dort niemand älter als 18 Jahre war. Wir waren 14-15-16 Jahre alt. Wir wurden zum Dorfältesten gebracht. Noch ein Mal wurde es uns vorgelesen … Und dann wurden wir auf LKWs geladen und in Begleitung der Polizei nach Bachmatsch gebracht.

Sie können es sich nicht vorstellen, dass ich es sogar heute noch höre, ich [erinnere] mich noch, das ist einfach in meinem Kopf,

dieses Geschrei … Wie unsere Mütter, Väter, alle Menschen uns nachgeweint haben …

Und wir, ich kann [sogar] nicht genau sagen wie viele, nun, vielleicht 30 oder 40 Menschen … Ja, ca. 30-40 Menschen wurden nach Bachmatsch gebracht. Wir wurden nach Bachmatsch gebracht und dort gab es schon so viele Menschen, so viele Polizisten und Deutsche …

Überall stehen Waggons … Und uns, wissen Sie, unsere Polizei hat uns dort übergeben, wir wurden in einen Waggon gesteckt und sind weggefahren … Wir sind weggefahren … Nicht gleich weggefahren, eine Weile standen wir da, bis alle aufgenommen wurden und dann ging es los. Nun, gekommen, gefahren sind wir nach Nischyn, von Nischyn nach Kyjiw, dann nach Fastow … Und dann hat jemand in Fastow, ich weiß nicht genau … Ich denke, dass war in Fastow … Jemand ist vorbeigegangen und hat die Waggons abgeklopft …

Die Räder im Vorbeigehen abgeklopft … Und wir hörten jemanden von ihnen sagen:

‘Bereiten Sie sich vor, Sie werden befreit. Bereiten Sie sich vor, Sie werden befreit.’

Und dann ist er weiter gelaufen … Der Zweite und der Dritte genauso …

Jedoch ließen wir Fastow schon hinter uns, und Schepetowka auch, wir kamen bereits nach Peremyschl, eine polnische Stadt, und niemand hat uns … Wir waren in den Waggons eingesperrt, begleitet wurden wir von den Polizisten … von den Deutschen …

Und als wir in Peremyschl ankamen, ging dort wieder eine Umsortierung los, einer links, einer rechts … Und dann sind wir wieder … sind weitergefahren.

Ein paar Tage später fiel es uns auf, dass wir durch die Gegend fahren, wo es noch anscheinend keinen Krieg gab. Wir haben durch die [kleinen Spalten] im Waggon rausgeschaut. Alles war sehr schön, sehr gepflegt. […]

Und als wir an einer kleinen Station ankamen, ließ man uns dort aussteigen … Auch [begleitet] vom Geschrei, Geschimpfe, Lärm, Hundegebell … […] Und als wir an dieser einen Station ankamen, ich weiß nicht wie sie heißt, wurden wir aufgestellt und an den Ort gebracht, den wir Arbeitsbörse nannten. […] Das war eine große … nun, man kann nicht sagen, dass es sehr groß war, aber es war eine mit Stacheldraht umzäunte Fläche. Man hat uns dorthin gebracht und sagte:

‘Wartet, ihr werdet abgeholt.’

Oleksandr I.,
Interview za478, 21.10.2005, Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“

Eines Tages klopft jemand an unser Gartentor. Ich gehe raus – keiner da. Dann sehe ich: Ein kleiner Junge schaut um die Ecke. ‘In deinem Briefkasten liegt ein Brief.’ Ich hab ihm mit der Faust gedroht, ich dachte, er macht sich über mich lustig, spielt mir einen Streich. Ich öffne den Briefkasten – stimmt, ein kleiner Zettel: ‘Geh weg,

jemand hat dich bei der Gestapo denunziert.’

Ich nehme den Zettel mit, zeige ihn meinem Vater. Er sagt: ‘Was tun? Damit macht heutzutage keiner Witze.’ Er hat meine Sachen gepackt und mich aus der Stadt rausgebracht, an die Landstraße. Und gesagt: ‘Geh diese Straße lang und such das Dorf Kutejnikowo.’ […] Dort lebten Bekannte von uns – bei denen sollte ich mich verstecken. Ich ging los. Ich lief und lief, ich war bestimmt schon vier Stunden unterwegs, da sehe ich, mir kommen Deutsche entgegen, mit Maschinenpistolen trieben sie Frauen vor sich her. Die Frauen laufen, eine kleine Kolonne. Na, wo sollte ich hin – ringsum freies Feld. Ich schaue mich um – Schützengräben. Ich, hopp, in einen Schützengraben. Und da blieben sie doch stehen! Die Deutschen brüllen: ‘Klosett, Klosett!’ Na, die Frauen springen natürlich in diese Schützengräben. Schnell, schnell – und wieder raus, und dann hat ein Deutscher alle Schützengräben kontrolliert. Und da saß ich. Er hat mich am Kragen gepackt und in die Kolonne gestoßen. […] So kam ich dann nach Deutschland.

Anna Kirilenko,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 116 f.

Sie haben uns nach Gluchow getrieben, zu einer sogenannten medizinischen Untersuchung. Was das für eine Untersuchung war? Einatmen, Luft anhalten. […] Ich hatte einen Cousin, wir sind zusammen zur Schule gegangen, er war sogar in mich verliebt. Und dieser Wolodja sagt zu mir: ‘Mich nehmen sie nicht.’ Ich fragte: ‘Wieso?’ ‘Sie haben mir bescheinigt, dass ich krank bin.’ Ich fragte: ‘Was fehlt dir denn? Du hast doch gar nichts.’ ‘Mir fehlt gar nichts,’ flüstert er. ‘Die Jungs und ich haben wie verrückt geraucht, und sie haben uns Tuberkulose bescheinigt.’ Ich hab sogar angefangen zu weinen.

‘Warum hast du mir nichts gesagt? Das hätte ich auch gemacht.’

Da sieht er mich mit großen Augen an. ‘Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, dass ein Mädchen rauchen könnte!’ Er ist nicht auf die Idee gekommen! Also wurde ich verschleppt.

Anna Odinokowa,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 118

Die Fahrt dauerte bestimmt so zehn Tage. Wir wurden in Viehwaggons verladen, ich weiß noch, das war so ein roter Waggon, drinnen lag Stroh. Manchmal hat einer die Tür aufgemacht, uns was [zu essen] hingeworfen und wieder zugemacht. Jeder hat um sein Leben gezittert. Und gedacht, hoffentlich werde ich nicht umgebracht. So sind wir gefahren, im Dunkeln, auf Stroh.

Antonina Wladimirowa,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 123

Man brachte mich irgendwohin zur Desinfektion, es war ein Mann [der sie durchführte]. Ich war nackt, er hat mich begossen und eingerieben. Das war so erniedrigend! Eine fürchterliche Prozedur!

Aldona Wolynskaja,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 131

Wir wurden gewaschen und nach Przemysl gebracht, dort war ein riesiges Lager. […] An einem Tisch sitzen lauter deutsche Ärzte – Gynäkologen, Allgemeinärzte, Lungenärzte. Wir gehen nackt auf den Tisch zu und hören sie sagen: ‘Das ist eine neue russische sowjetische Rasse.’

Nadeshda Ismalkowa,
Für immer gezeichnet. Die Geschichte der „Ostarbeiter“, S. 131